Eine Dystopie, die gar nicht so weit von der jetzigen Welt entfernt scheint, ist das folgende Buch. Eine ausschweifende Reise in die Zukunft des digitalen Menschen…
Dismatched: View und Brachvogel
von
Bernd Boden
688 Seiten
Klappentext:
Die emotionalen Höhen und Tiefen von Freiheit und Schicksal mit der Möglichkeit auf Glück oder Absehbarkeit, Berechenbarkeit und garantierte Sicherheit in tristem Mittelmaß? Zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:
Die Urb: Nach dem Finalen Kataklysmus haben sich die Menschen bedingungslos dem Takt des Systems überantwortet und führen ein absolut gleichförmiges Leben in totaler Berechenbarkeit und Absicherung. Ein individuelles Schicksal ist weder erwünscht noch möglich. Unter dem Diktat einer rationalen WirtschaftsSozialität sind die gemittelten Citizens Inputgeber für das autarke und verselbstständigte System. Jegliches Verhalten, das vom Mittelwert des SocialScore abweicht, wird sanktioniert und ausgemerzt, Träume werden unterdrückt, Bücher sind in Vergessenheit geraten.
Die Klave: Angesichts der Schrecken der Großen Verderbnis haben die Mütter gemäß der Weisung der Großen Mondin ein ÖkoMatriarchat errichtet und führen die Mannlinge, deren Ungestüm und geradliniges Denken die Welt an den Rand der Katastrophe gebracht haben, mit strenger Hand. Der Zeugungsträger Brachvogel will die engen Kreisläufe der Klave durchbrechen und den offenen Horizont gewinnen. Als aufstrebende Scout der Agency of SocialTechnology recentert View Abweichler, Dismatchte, die aus dem Mittel gefallen sind. Die Konturen ihres perfekten Lebens sind quantifiziert und vermessen und erstrecken sich klar vor ihr wie das feste Band der AntiGrav, über das die Verkehrs- und Warenströme der Urb verlaufen. Doch als sie während ihrer nächtlichen Regenerationsphase die ersten Träume hat und ihr Bücher zugespielt werden, die ein gänzlich anderes Leben vorstellbar machen, beginnt sie, allmählich aus dem Takt zu fallen. Aber als angepasste und verhaltensgemittelte Citizen völlig in den digitalen Kokon aus Komfort, Sicherheit und Absehbarkeit ihres Lebens eingesponnen, ist es für sie zunächst unmöglich, ihre Karriere aufzugeben und die Seiten zu wechseln. Erst die Traumschiffer der Oneironauten, die Begegnung mit Diver, dem dichtenden cerebralen Cyborg und die Liebe zu Brachvogel, dem Mannling aus der Klave der Mütter, zwingen sie, eine Entscheidung zu treffen …
Meine Meinung:
Eine interessante Welt erschließt sich dem Leser in der Urb. Die Menschen werden digital überwacht, das Leben aufgezeichnet, ausgewertet und analysiert. Das Ziel ist eine „Mittelung“. Man soll möglichst im Mittelmaß bei Allem sein. Durchschnittlich viele und gute Freunde, durchschnittlich viel Einkaufen, durchschnittlich gut arbeiten, sich durchschnittlich gut fühlen, immer im Mittel. Nur dann ist ein harmonisches Zusammenleben möglich.
Während man mit der Protagonistin View durch ihr Leben schwebt, kommt einem dieses Umfeld eigentlich ganz erstrebenswert vor. Der Mensch ist sicher vor Fehlentscheidungen, hat weniger Gefühlsschwankungen, da diese sofort vom System ausgewertet werden können und Möglichkeiten zu Gegenmaßnahmen gezeigt werden. Es gibt weniger Konflikte, da diese mittels eines Mediators sofort geklärt werden können und durch spezielle Software eine Analyse des Konfliktgrundes schnell gefunden wird. So entstehen keine spekulativen Feindschaften. Klingt erst einmal recht gut, wenn man der Überwachung seines Lebens an sich aufgeschlossen gegenüber steht…
In der Klave hingegen herrscht das Matriarchat, die sogenannten „Mannlinge“ werden gemeinschaftlich erzogen und arbeiten für die Frauen. Das Leben spielt in und mit der Natur, sehr ursprünglich und ohne moderne Mittel. Die Mondin ist die Göttin der Klave und so richtet sich das gesamte Leben um den Stand der Mondin aus.
Brachvogel ist ein junger Mann, der seinen ganz eigenen Kopf hat. Er fügt sich nicht wie erwartet in die Gemeinschaft und ist der heimlichen Meinung, dass man mit Fortschritt viel mehr erreichen könnte.
Die Geschichte ist vom Aufbau her eher schwierig zu lesen. In der Urb ist die Handlung gespickt mit vielen komplizierten, englischen Begriffen. Viele fiktive Begriffe aus Informatik und Bio-Informatik. Dazu ausschweifende Sätze und neue Zeitrechnungen und fiktive Bezeichnungen für fast jedes Detail des Lebens.
Dem Gegenüber steht die Klave, eine Lebensweise wie im Mittelalter mit teils extrem ver“weiblichten“ Begriffen. So ist der Lesefluss nur mit Konzentration zu erreichen. Dieses massive Werk liest man nicht mal eben zwischendurch.
Wenn man sich aber auf dieses anspruchsvolles Werk einlässt, bekommt man ein wirklich spannendes, fesselndes und mitreißendes Lesevergnügen! Wie die beiden Welten sich doch ähneln, die Probleme sich gleichen. Als beide Welten aufeinander prallen, wird die Story nicht kitschig, sondern sehr emotional und als Leser taucht man hier noch tiefer in die Psyche der Protagonisten ein. Weil ich gerade dabei bin: die Protagonisten sind allesamt sehr spannend, vielschichtig und gut ausgearbeitet. Man kann die Reaktionen gut nachvollziehen, leidet mit den Charakteren und hofft mit ihnen.
Der Verlauf der Handlung ist immer glaubwürdig und wird nicht langweilig. Selbst nach 500 Seiten war ich immer noch voll dabei, mehr denn je, und habe mit den Protagonisten mit gefiebert und war gierig zu wissen, wie es weiter geht, wohin die Zukunft führen kann.
Dass beide Welten ihre Vor- und Nachteile haben, steht außen vor. Doch wie es bei den Menschen häufig der Fall ist, gibt es immer wieder Einzelne, die die Macht über andere ausnutzen und somit eine gute Idee in ein zerstörerisches System verwandeln.
Eine Geschichte voller Dramatik, Wandel und Hoffnung, voller Ängste und mutiger Menschen, die trotz aller Hindernisse an ein harmonisches Miteinander glauben.
Bis zur letzten Seite bleibt die Story spannend, abwechslungsreich und überraschend. Und selbst wenn man sich das Ende irgendwann ausmalen kann, hat der Autor es ein ums andere Mal geschafft, den Leser mit tiefen Emotionen, ehrlichen Gefühlen und glaubhaften Erlebnissen tief im Innern zu erreichen. Kein Kitsch, kein „am Ende wird alles Gut“.. eher ein „es könnte alles so gut sein..“
Da ich wirklich lange gekämpft habe mit den vielen englischen Begriffen und der Lesefluß erst spät rund lief, ziehe ich einen Punkt ab. Aber die Story an sich ist wirklich mega gut!
Wer Mut zu einem sehr anspruchsvollen, ausschweifenden und emotionalen Werk hat, sollte sich dieses Buch unbedingt ansehen.
4 Sterne
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